16. Jun 2022
Allgemein

Bereichsausnahme in NRW

Die Vergabekammer Westfalen hat entschieden, dass ein Vertrag über Rettungsdienstleistungen der unter Berufung auf die Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB geschlossen wurde, gemäß § 135 GWB unwirksam sein kann.

Auswirkungen der jüngsten Entscheidung der VK Westfalen

Entscheidung der Vergabekammer

Die Vergabekammer Westfalen hat mit Beschluss vom 15.06.2022 entschieden, dass ein Vertrag über Rettungsdienstleistungen der unter Berufung auf die Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB geschlossen wurde, gemäß § 135 GWB unwirksam sein kann. Damit stellte die Vergabekammer fest, dass die Bereichsausnahme (derzeit) im Bundesland Nordrhein-Westfalen mangels einer Privilegierung von gemeinnützigen Organisationen und Vereinigungen keine Anwendung findet. Diese Entscheidung reiht sich in die bislang ergangenen Entscheidungen des (VGH München, OVG Lüneburg, OLG Celle, OLG Schleswig, OLG Hamburg und OLG Brandenburg) auf einer Linie ein. Entscheidend ist das Vorliegen einer landesrechtlichen Privilegierung von gemeinnützigen Vereinigungen und Organisationen.

In dem Fall begehrte ein privater (gemeinnütziger) Rettungsdienstleister die Feststellung der Unwirksamkeit eines Vertrages über Rettungsdienstleistungen, welcher ohne ein förmliches Vergabeverfahren an eine Hilfsorganisation vergeben wurde. Die Vergabekammer gab dem Antragsteller in erster Instanz recht.

Die tragende Erwägung der Vergabekammer stützte sich auf § 13 RettG NRW. Dieser sieht keine Privilegierung von gemeinnützigen Organisationen und Vereinigungen im Sinne des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB vor, sondern regelt im Gegenteil eine Öffnung des Wettbewerbs (auch) für private Leistungserbringer vor. Somit sind neben gemeinnützigen Organisationen und Vereinigungen auch sonstige „andere Leistungserbringer“ bei der Übertragung mit Aufgaben des Rettungsdienstes gemäß § 13 RettG NRW zu berücksichtigen. Die Vergabe von Rettungsdienstleistungen im Bundesland Nordrhein-Westfalen unter Berufung auf die Bereichsausnahme ist deshalb nicht möglich, da das notwendig Tatbestandsmerkmal einer Privilegierung gemeinnütziger Organisationen und Vereinigungen aufgrund des derzeitigen § 13 RettG NRW nicht erfüllt ist und eine Beteiligung von privaten (nicht gemeinnützigen „anderen Leistungserbringern“) vorgeschrieben ist.

Der Auffassung, dass sich eine Privilegierung unmittelbar aus § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB ergebe, hat die Vergabekammer mit der Begründung verneint, dass § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB ausschließlich die Möglichkeit eröffne, von der Bereichsausnahme (Nichtanwendung des 4. Teils des GWB) Gebrauch zu machen. Inwieweit oder ob diese Möglichkeit in Anspruch genommen werden darf, hängt jedoch maßgeblich von der landesrechtlichen Ausgestaltung ab. Durch § 13 RettG NRW gibt es jedoch eine landesrechtliche Vorgabe dahingehend, dass neben anerkannten Hilfsorganisationen auch andere Leistungserbringer bei der Übertragung von Aufgaben des Rettungsdienstes in Frage kommen. Ob diese Öffnung für „andere Leistungserbringer“ (nicht nur gemeinnützige Vereinigungen und Organisationen) auf einer landesrechtlichen Vorgabe oder der autonomen Entscheidung eines Auftraggebers beruht, macht keinen Unterschied.

Die Entscheidung der Vergabekammer Westfalen ist noch nicht rechtskräftig. Es bleibt also abzuwarten, ob einer der Beteiligten sofortige Beschwerde zum zuständigen Oberlandesgericht einreichen wird.

Konsequenzen für Vergabestellen

Unmittelbare Auswirkungen

Die Tragweite dieser Entscheidung wird sich vorerst bei den jeweiligen Vergabestellen zeigen, welche in naher Zukunft Rettungsdienstleistungen beschaffen werden oder vor kurzem beschafft haben. Für eine rechtsichere Vergabe von Rettungsdienstleistungen wird es in Nordrhein-Westfalen zukünftig unablässig sein, ein wettbewerbliches Verfahren nach dem 4. Teil des GWB (EU-Vergabeverfahren zur Vergabe eines Dienstleistungsauftrages, „VgV-Verfahren“) durchzuführen. Wenngleich die vorliegende Entscheidung der Vergabekammer Westfalen noch nicht rechtskräftig ist, so ist nach dem Vorsichtsprinzip bis zu einer abweichenden obergerichtlichen Entscheidung, von einer Vergabe unter Berufung auf die Bereichsausnahme gemäß § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB dringend abzuraten.

Eine weitere weitreichende Konsequenz für Vergabestelle und auch aktuelle Auftragnehmer könnte sich zudem daraus ergeben, dass bestehende Verträge von Wettbewerbern als de-facto Vergabe vor die Vergabekammer gebracht werden und dort deren Unwirksamkeit festgestellt wird. Dies betrifft jedoch nur Verträge, deren Vertragsschluss nicht länger als sechs Monate her ist und die ohne ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren oder eine Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben worden ist.

Um solche (zeit- und kostenintensiven) Verfahren zur vermeiden, empfehlen wir vorsichtshalber hinsichtlich etwaiger gefährdeter (anstehender) Vertragsschlüsse das Gespräch mit dem Auftragnehmer zu suchen und den Auftrag bzw. das laufende Auswahlverfahren gegebenenfalls einvernehmlich aufzuheben und an stattdessen eine europaweite Ausschreibung durchzuführen. Vor der Einleitung eines Vergabenachprüfungsantrages ist keine Rüge durch den Antragsteller erforderlich, sodass eine Vergabestelle erst durch die Zustellung des Vergabenachprüfungsantrages hiervon Kenntnis erlangt, ob etwaige Verträge über Rettungsdienstleistungen von Dritten für unwirksam erklärt werden sollen. Für unwirksam erklärte Verträge sind grundsätzlich rückabzuwickeln. Hier wären unter Umständen auch Schadensersatzansprüche der bislang tätigen Auftragnehmer denkbar.

Notwendige Anpassungen

Die Vergabe von Rettungsdienstleistungen in Nordrhein-Westfalen wird durch diese Entscheidung zukünftig deutlich mehr Raum und Kapazitäten bei den Vergabestellen in Anspruch nehmen. Dies resultiert insbesondere daraus, dass die Durchführung eines Vergabeverfahren gemäß dem 4. Teil des GWB („VgV-Verfahren“) deutlich komplexer ist. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass Aufträge für Rettungsdienstleistungen oftmals über lange Zeiträume ausgeschrieben werden und nicht selten ein Auftragsvolumen von mehreren Millionen Euro aufweisen. Aufgrund der großen Relevanz und in Anbetracht des besonders sensiblen Bereichs der Gefahrenabwehr, ist die Auswahl der zukünftigen Auftragnehmer sorgfältig durchzuführen. Das Vergaberecht bietet hier ausreichend Instrumente, um auch sensible Leistungen im Wettbewerb erfolgreich zu vergeben. Dabei spielen insbesondere die Auswahl von angemessenen Eignungskriterien sowie entsprechenden Mindestbedingungen eine Rolle. Zudem erscheint die alleinige Wertung des Preises als Zuschlagskriterium in Bezug auf den Auftragsgegenstand als nicht angemessen. Hier sind demnach auch qualitätsbezogene Kriterien, welche bspw. im Rahmen eines Konzeptes darzulegen sind, empfehlenswert.

Im Anwendungsbereich des 4. Teils des GWB kommen insbesondere das (nicht-)offene Verfahren oder das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb für die Vergabe von Rettungsdienstleistungen in Frage.

Diese neuen Anforderungen und Voraussetzungen sind nun in rechtssichere und standardisierte Vergabeunterlagen zu überführen.

Konsequenzen für Auftragnehmer

Andere (private & gemeinnützige) Leistungserbringer

Andere Leistungserbringer wurden nach der bisherigen Ausschreibungspraxis in NRW nur teilweise berücksichtigt. Der Großteil der Leistungen wurde unter Berufung auf die Bereichsausnahme an die Hilfsorganisationen vergeben. Selbst private Leistungserbringer, welche den Status der Gemeinnützigkeit haben, kamen dabei eher sehr selten zum Zug. Die Entscheidung und die voraussichtliche neue Praxis zur Vergabe von Rettungsdienstleistungen stellt insofern eine Chance dar für private Anbieter von Rettungsdienstleistungen.

Beachten sollten jedoch nicht gemeinnützige Anbieter, dass die damit eingetretene rechtliche Lage voraussichtlich nur von vorübergehender Natur sein wird. Mehr dazu unter Punkt 4 und einem Ausblick auf die längerfristigen Auswirkungen der Entscheidung.

Hilfsorganisationen

Hilfsorganisationen haben sich zukünftig auf die voraussichtlich deutlich komplexeren Vergabeverfahren sowie einen stärkeren Wettbewerb einzustellen. Diese Umstände sind den Hilfsorganisationen aus mehreren anderen Bundesländern allerdings bereits bekannt.

Ausblick

Diese vorstehende beschriebene neue Lage kann jedoch nur von vorübergehender Natur sein. Sollte die Entscheidung in dieser Form rechtskräftig werden und gegebenenfalls obergerichtlich bestätigt werden, ist nicht auszuschließen, dass der Landesgesetzgeber in NRW darauf reagieren wird. Vergleicht man die aktuelle Lage im Bundesland Nordrhein-Westfalen mit der Lage im Bundesland Bayern im Jahr 2019 so lassen sich hieraus folgende Schlüsse ziehen.

In Bayern ändert der Landesgesetzgeber derzeit das Bayerische Rettungsdienstgesetz dahingehend, dass zukünftig ausschließlich gemeinnützige Organisationen und Vereinigung beauftragt werden dürfen. Ob diese neue Regelung in Bayern einer Überprüfung im Wege der Popularklage zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof standhalten wird, bleibt abzuwarten. 

Sicherlich stellt dies eine, wenn auch radikale, Möglichkeit dar, doch andere Bundesländer wie Hamburg oder Brandenburg zeigen, dass weiterhin private und gemeinnützige Leistungserbringer als Auftragnehmer in Frage kommen. Hier ist dann allerdings entscheidend, dass im Landesrettungsdienstgesetz ein Privileg enthalten ist, den Wettbewerb auf gemeinnützige Organisationen und Vereinigungen zu beschränken. Wie großzügig diese Privilegierung dann von den Vergabestellen ausgeübt wird, muss sich zeigen.

Vergleiche hierzu auch unsere weiteren Anmerkungen zur Bereichsausnahme in NRW.

Der Autor

Dominik Kraft

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht

Werdegang

• Geboren 1992 in Tegernsee
• 2011 – 2015 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Regensburg mit Schwerpunkt Immobilienrecht
• 2016 – 2018 Referendariat in Regensburg und Nebentätigkeit in mehreren Rechtsanwaltskanzleien
• 2019 – 2020 Angestellter Rechtsanwalt im Bereich Bau- und Architektenrecht sowie Vergaberecht
• Seit Dezember 2020 Partner der Kanzlei FASP München
2021 Abschluss des Fachanwaltslehrgangs im Vergaberecht
• 2022 Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht

Schwerpunkte

• Bau
o Vertragsgestaltung zu Bauprojekten
o Vertretung von Auftraggebern und Auftragnehmern in Bauprozessen
o Rechtliche Begleitung von Bauprojekten

• Vergabe
o Vorbereitung und Durchführung von Vergabeverfahren
o Beratung zum Thema „strategische Beschaffung“
o Vertretung in Nachprüfungsverfahren

Freizeit

Radfahren, Klettern, Literatur, Fotografie

Anbieterkennzeichnung

Partner bei FASP Finck & Partner Rechtsanwälte Steuerberater mbB

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Glückwunsch an unseren Kollegen RA Dominik Kraft
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